Ein kleines Fleckchen Saturn

Vor 70 Jahren verfassten Adorno und Horkheimer die »Dialektik der Aufklärung«. Eine zehnfache Würdigung

  • Lesedauer: 18 Min.
Ein großes Geschenk erhielt Friedrich Pollock, Mitbegründer des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, zum 50. Geburtstag. Seine Kollegen und Freunde Theodor W. Adorno und Max Horkheimer widmeten ihm einen Essayband, der zunächst die schlichte Überschrift »Philosophische Fragmente« trug. In einer Auflage von 500 hektographierten Exemplaren erschien das Buch 1944 beim New York Institute of Social Research. Gedruckt wurde es erstmalig 1947 in Amsterdam unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung«. Das Werk, das im US-amerikanischen Exil entstand, nannte Adorno das »schwärzeste Buch« der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Die Eindrücke des verstörenden Miteinanders von Kultur und Barbarei in Europa haben es geprägt.

Die wahre Flaschenpost

Als Max und Teddie nach Fertigstellung des Manuskripts mit Maidon und Gretel auf der Terrasse kalifornischen Rotwein tranken, warf Maidon in die Runde: »Was glaubt ihr, was in 70 Jahren von diesen Fragmenten geblieben sein wird?«

Die Autorinnen und Autoren

Alle zehn Gratulantinnen und Gratulanten hat die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen - theoretisch oder praktisch in Kultur oder Politik - zu einer mehr oder weniger intensiven Beschäftigung mit dem Werk Adornos und Horkheimers geführt.

Der Sozialwissenschaftler Alex Demirović, die Soziologin Stefanie Kron und der Philosoph Oliver Schott vertreten die Wissenschaft, Linksfraktionschef Gregor Gysi die Politik, der Musikjournalist und DJ Klaus Walter sowie der Sänger der Goldenen Zitronen Schorsch Kamerun die Popkultur. Magnus Klaue und Elke Wittich sind u.a. für die Wochenzeitung »Jungle World« tätig; Leo Fischer war Chefredakteur der »Titanic«. Tom Strohschneider ist Chefredakteur dieser Zeitung.

»Das lässt sich nicht präjudizieren«, antwortete Teddie.

»Jedenfalls lässt sich präjudizieren, dass wir das nicht mehr erfahren werden«, beschied ihn Max.

»Wenn sich verewigt, was das Buch beschreibt, wird gar nichts davon bleiben«, erwiderte Teddie.

»Aber auch nicht, wenn eintrifft, was das Buch befördern will«, gab Max zu bedenken. »Denn dann hätte es sich überflüssig gemacht.«

»Wenn so oder so nichts davon bleiben wird, warum habt ihr es dann überhaupt geschrieben?« fragte Gretel.

»Von negativer Dialektik hast du noch nicht viel verstanden«, lökte Maidon wider den Stachel.

»In meinem Beruf muss ich auch ein bisschen Positivistin sein«, wandte Gretel ein. »Außerdem ist es immer nützlich zu wissen, wen die Autoren sich als Publikum vorgestellt haben, um sie gegen Vereinnahmung zu schützen.«

»Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann«, zitierte Teddie, »so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.«

»Es wird sicher viele Eingebildete geben, die glauben, sich eurer Hinterlassenschaft annehmen zu können, aber wie viele darunter verlässliche Zeugen sein werden, weiß ich nicht«, widersprach Maidon.

»Du bist wunderbar«, sagte Max und gab ihr ein Küsschen. »Das war fast schon Karl Kraus.«

»Ist da noch eine Flasche?«, fragte Teddie.

»Nein, das war die letzte«, sagte Gretel und griff nach dem Manuskriptkonvolut. »Aber ich bringe das hier jetzt zur Post und werde auf dem Rückweg noch eine kaufen.«

Magnus Klaue

Ins Offene denken

Die »Dialektik der Aufklärung« markiert einen Wendepunkt in der marxistischen Theorie. Dieses 1947 erschienene Hauptwerk der älteren kritischen Theorie galt vielen Interpreten als düster, pessimistisch, praxisfern oder vernunftfeindlich. Das trifft nicht zu. Horkheimer und Adorno gehen der Frage nach, wie ein derartiges Ausmaß an Barbarei inmitten der höchst fortgeschrittenen Gesellschaften Deutschland, UdSSR oder USA möglich war, und brechen mit vielen Selbstverständlichkeiten, die bis heute in der Linken verbreitet sind. Das Ziel einer vernünftig eingerichteten Welt, wie es, vom Bürgertum übernommen, auch in die Vorstellungswelt der marxistisch geprägten Arbeiterbewegung Eingang gefunden hat, schlägt um in irrationale und totalitäre Vergesellschaftung. Vernunft will alle gesellschaftlichen Verhältnisse durchdringen und alles derart unter sich begreifen, dass sie eine geschlossene, von oben verwaltete Welt herstellen kann. So gerinnt Aufklärung beim Versuch, die Selbsterhaltung der Menschen zu sichern, immer wieder zum Mythos, zu »zweiter Natur« - Markt, Staat, Partei, Wissenschaft, Demokratie, Planwirtschaft - die im Namen der Erhaltung des Kollektivs zum Leiden und zur Vernichtung von Individuen beiträgt. Die Geschichte der hochzivilisierten Menschheit bewegt sich seit Jahrtausenden im Widerspruch zwischen Aufklärung und Mythos. Die Aufklärung ist also dem geschichtlichen Verlauf immanent und muss, will sie sich nicht selbst aufgeben, selbstkritisch fragen, wieweit sie am Verhängnis mitwirkt. Sie muss darüber nachdenken, wie sie jenem schicksalhaften Gang der Dinge entkommt. Dafür sind aus Horkheimers und Adornos Sicht die gesellschaftlichen Bedingungen längst gegeben. Der Selbsterhaltung wegen bedürfte es keiner Herrschaft mehr, niemand müsste mehr hungern. Die Gesellschaft ist reich genug. Die Mächtigen gehen auf Distanz zur Vernunft, sie reduzieren das Denken auf die Affirmation der bestehenden Verhältnisse. Doch das ermöglicht Versöhnung mit der Natur und zwischen den Menschen: Vernunft wird - so Horkheimer und Adorno - aus instrumentellen Zusammenhängen freigesetzt und kann ins Offene denken.

Alex Demirović

Sozialismus aus den Spelunken

Wenn ich an Adorno denke, bekomme ich gleich mal ein schlechtes Gewissen. Weil ich als Studentin eines geisteswissenschaftlichen Fachs nie eine Lesegruppe zur »Dialektik der Aufklärung« besucht habe. Ja, weil ich es eigentlich nur mal so ritsch ratsch quer gelesen habe und vor allem weil ich Hedonistin bin. Hedonistin mit katholischer Primärerziehung. Daher das schlechte Gewissen. Aber zurück zum Thema: Weil ich Hedonistin bin, finde ich Pop ganz gut und Pop ist ja Massenkultur. So kommen wir schnell zur Kulturindustrie und damit ohne Umwege zu einer Kernthese der »Dialektik der Aufklärung«: die Kommodifizierung, unendliche Reproduzierbarkeit und Marktförmigkeit von Kulturprodukten. Das ist natürlich nicht gut, sondern krass kapitalistisch. Zudem sollte Massenphänomenen in Deutschland auch aus anderen bekannten Gründen mit Misstrauen begegnet werden.

Aber: Dialektik der Aufklärung meint ja nicht nur, dass sich das Ideal der individuellen Einzigartigkeit (hier die künstlerische Autonomie des Kulturschaffenden, verkörpert in den zumeist männlichen Dichtern und Denkern Europas) fortwährend am Ideal des technischen Fortschritts und der faktischen Macht des Marktes abarbeitet. Von der globalen und sozialen Peripherie her betrachtet, ist der Dichter und Denker auch eine ebenso narzisstische wie arrogante Figur in uns. Sie neigt dazu, alle kulturellen Ausdrucksformen, die kollektiv und ohne Copyright auf den Straßen, in den Fabriken und Häfen, Spelunken und Clubs dieser Welt entstanden sind, als primitiv oder prollig abzutun. Der Dichter und Denker in uns rümpft seit jeher gerne die Nase über die Sub- und Populärkulturen von ArbeiterInnen, Underdogs, Jugendlichen und anderen devianten Figuren. Ich halte es daher lieber mit dem kürzlich verstorbenen Stuart Hall, der einmal sagte: »Populärkultur ist zwar keine Sphäre der ausgereiften sozialistischen Kultur - aber sie ist ein Ort, an dem Sozialismus entstehen kann.«

Stefanie Kron

Die dunkle Seite

Das Buch »Dialektik der Aufklärung« darf mit Sicherheit als das bekannteste Werk von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gelten. Das Werk, zunächst in einem kleinen Emigrantenverlag erschienen, nannten die Autoren auch eine »Flaschenpost«, da sie wohl keine rechte Idee davon hatten, wann und für wen dieses Buch eine Bedeutung haben würde. Für sie selbst hatte es die Bedeutung einer vorläufigen Klärung von aufgetürmten Fragen.

Ich glaube, dass es sich lohnt, der zentralen Fragestellung des Buches zu folgen. Falls wir unter »Aufklärung« einen Prozess verstehen, der an die Stelle des Mythos die rationale Erklärung setzt, wenn wir die letzten Spuren nichtrationaler Weltbeschreibung tilgen, was wohl im Zeitalter von Industrie, Wissenschaft und Technik der Fall sein dürfte, dann muss es doch schockieren, dass sich Herrschaftsformen wie der Nationalsozialismus etablieren konnten, die das wohl Unvernünftigste darstellten. Auch die Erstarrung der russischen Revolution in einem bürokratischen Monster mit Bereitschaft zum Massenterror war nicht geeignet, noch Optimismus zu erzeugen. Kurz: Die Autoren insistierten auf einen Widerspruch zwischen Vernunft und etablierter Rationalität.

Ab und zu müssen wir uns diese Gedanken »antun«, gewissermaßen als kritische Selbstvergewisserung. Nichts ist trügerischer als Fortschrittsgewissheit. Niemand konnte sich die Barbarei vorstellen, in die ein »zivilisiertes« Land wie Deutschland zurückfallen konnte, obwohl man sich viel Schlimmes vorstellen konnte. Nicht umsonst gab es Antifaschistinnen und Antifaschisten, nicht umsonst sahen sich Horkheimer und Adorno zur Emigration gezwungen. Der Rückfall in die Barbarei wird umso schlimmer, je fortgeschrittener eine Gesellschaft ist. »Auschwitz« steht nicht nur für den Völkermord an den Jüdinnen und Juden. »Auschwitz« steht auch für Industrie, moderne Infrastruktur und rationale Bürokratie, um Elemente des Fortschritts also, die sich in tödliche Waffen gegen Menschen und jede Menschlichkeit verwandelten, weil Humanität als unzeitgemäße Sentimentalität erschien, als »Mythos«. Diese dunkle Seite des Fortschritts, der Aufklärung also, machen Horkheimer und Adorno uns bewusst.

Gregor Gysi

Das Meniskus-Erlebnis

Hat das Kultbuch der 68er dauerhaft Wirkung entfaltet, hat sich bei den Menschen etwas verändert? Hausbesuch bei Marlies und Klaus Sudermann, beide Mitte fünfzig, sie Orthopädin, er Professor für Mikrohermeneutik. Beide schienen ihr Leben im Griff zu haben - bis Klaus mit vierzig an einem lebensbedrohlichen Hirnkasper erkrankt. »Seine instrumentelle Vernunft lief komplett aus dem Ruder«, sagt Marlies heute. »Er versuchte die Einheit von Herrschaft und Ratio zu verwirklichen, sortierte Beschlüsse des Familienrats nach Länge.« Die Schulphilosophie ist ratlos. Dann steckt ihnen ein Freund die »Dialektik der Aufklärung« zu. »Für uns eine Art Meniskus-Erlebnis.« Tief beeindruckt von den Lehren der Frankfurter Reformwissenschaftler Theodor Weh und Max Horkheimer, ziehen sie aufs Land - und machen das »DdA-Prinzip« zu ihrer Lebensphilosophie.

Klingelt man heute bei Sudermanns, ertönt zuerst fröhliches Gebell - stürmisch begrüßt der kleine Terriermischling Schibboleth die Gäste. Der Hausherr ist zurückhaltender, führt zunächst ins Wohnzimmer, zeigt seine Sammlung historischer Schumann-Platten. »Vinyl, keine DVDs. Kulturindustrie kommt uns nicht ins Haus.« Marlies guckt derweil »Sturm der Liebe« auf einem alten Röhrenfernseher: »Ein Beamer ist für uns falsche Projektion.« In einem Eckregal steht ein großer Odysseus-Kristall - der einzige Hinweis, dass hier praktizierende Dialektiker leben. Laut Adorno/Horkheimer bündelt er Mythos-Energie und verwandelt sie in harmlose Hintergrundstrahlung.

Überhaupt geht es stressfrei zu bei den Adorniten. »Die wenigen Momente nicht entfremdeten Lebens, die unsere schnelllebige Zeit übrig lässt, wollen wir zu Genussmomenten ausbauen.« Deswegen haben sich die beiden bei Manufaktum ein rostfreies Stahlbad gekauft - Klaus schwört auf Horkheimer-Salze und Entgiftung nach Dr. Marcuse. Doch auch in einem so gründlich aufgeklärten Haushalt geht nicht alles von selbst: »Deshalb haben wir uns vor ein paar Jahren schweren Herzens für Hausangestellte entschieden. Dessen eingedenk, dass noch in der Hölle der Gartenarbeit immer auch ein Vorschein besseren Lebens durchschimmern sollte, stellen wir aber nichtalkoholische Erfrischungsgetränke zur Verfügung.« Und das Spirituelle? Klaus ist katholisch, Marlies Mitglied in der Universellen Kirche der Befreiten Gesellschaft. »Laut Prof. Horkheimer werden wir alle wiedergeboren, bis unsere Sünden abgeleistet sind. Dann erwachen wir irgendwann in der befreiten Gesellschaft, auf dem Saturn.« Doch scheint es, dass sich die beiden ein kleines Fleckchen Saturn schon in diesem Leben erarbeitet haben.

Leo Fischer

Aufklärung der Aufklärung

»Ich fürchte, es ist der schwierigste Text, den ich je geschrieben habe.« So beurteilte Max Horkheimer im Dezember 1942 in einem Brief an Herbert Marcuse das erste Kapitel der »Dialektik der Aufklärung«, an der er und Adorno damals intensiv arbeiteten. Diese Einschätzung muss wohl auch aus heutiger Sicht noch als treffend gelten. Horkheimers Texte sind im Allgemeinen zugänglicher als diejenigen seines Coautors, nicht jedoch in diesem Fall, was nicht nur der Zusammenarbeit mit Adorno, sondern auch dem außergewöhnlich ambitionierten Ziel geschuldet ist: die Aufklärung über sich selbst aufzuklären - wenn man so will, eine historisch-materialistische Kritik der unreinen Vernunft im Angesicht ihres Umschlags in eine neue Qualität von Wahn, nämlich die sich soeben auf ihren Höhepunkt steigernde Barbarei von Nationalsozialismus, totalem Krieg und Shoah. Nicht ohne Grund ist dieses Vorhaben unvollendet geblieben, wie der Untertitel »Philosophische Fragmente« betont. Für eine erste Annäherung an das Werk Adornos und Horkheimers sollte man besser zu anderen Werken greifen. Die »Dialektik der Aufklärung« haben die Autoren stellenweise geradezu verschlüsselt. Vor der Publikation wurden bekanntlich allzu eindeutig marxistische Begriffe durch »weniger belastete« ersetzt. Oft werden Bezüge auf Werke anderer Autoren nicht kenntlich gemacht, sondern sind nur für Eingeweihte erkennbar. Derlei erschwert es zusätzlich, die ohnehin voraussetzungsreichen, hochkomplexen Gedankengänge nachzuvollziehen. Eine gründlich kommentierte Studienausgabe dieses Buches, aber auch anderer Werke insbesondere Adornos ist ein Desiderat.

Die »Dialektik der Aufklärung« verfassten die beiden aus Deutschland in die USA geflüchteten Juden genau zu der Zeit, als in Europa das singuläre Unternehmen der »Endlösung der Judenfrage« durch die industrielle Vernichtung von Millionen von Menschen betrieben wurde. Es ist der Versuch zweier Marxisten, zu begreifen, warum die lange vorhergesagte große Krise des Kapitalismus antisemitischem Wahn statt revolutionärem Klassenbewusstsein und totalem Krieg statt der Emanzipation der Menschheit im Kommunismus den Weg bereitet hat. Genau in dem, was zeitgebunden, der Auseinandersetzung mit den kaum fasslichen Ereignissen der damaligen Zeit geschuldet ist, betrifft das Werk uns heute. Denn der Gang der Geschichte in den letzten 70 Jahren hat die Fragen, die Horkheimer und Adorno beschäftigten, weder beantwortet noch hinfällig werden lassen, sondern vielmehr die Einsicht in ihre anhaltende Dringlichkeit verstellt.

Oliver Schott

Spuren und Suche

»Darum schreit man: Haltet den Dieb! Und zeigt auf den Juden.« Ich habe diesen Satz aus der »Dialektik der Aufklärung« in den 1990ern dutzendemal gelesen. Was im Buch davor stand und was danach geschrieben steht? Nachlesen. Sozusagen: den auswendig erinnerten Satz zurückbringen zu dem Ganzen, das man doch vergessen hat. Blassgrauer Einband mit den Schwarz-Weiß-Fotos von Adorno und Horkheimer darauf. Das Buch ist nicht zu finden. Also: suchen.

Vergeblich. Was man so wie nebenbei in Regalen entdeckt, erzählt auch etwas über die Wirkung dieses Buches. Da ein Sammelband zu »Kritischer Theorie und Kultur« (von 1989, die Autoren waren sicher noch ahnungslos); hier einer zu »Antisemitismus und Gesellschaft«. Zum Beispiel. Und sie passen gut, denn unsere Beschäftigung mit der »Dialektik der Aufklärung« galt damals vor allem dem zweiten und dritten Teil des Büchleins: zur Kulturindustrie und über den Antisemitismus.

Vor allem Letzteres hatte Gründe. Die linke Szene war mit tödlichem Rassismus und neuen Rechtsradikalen konfrontiert, sie blickte - damals war das noch verbreitet - mehr als skeptisch auf das nun »wiedervereinigte« Gebilde, das sie auf Demos wegzurufen hoffte: »Nie wieder Deutschland!« Und bei der Aufarbeitung der gewesenen Sozialismusbemühungen lasen wir über Field-Affäre und Slansky-Prozess.

Von hier war es nicht weit zur Kritik jener »Kritik« am Kapitalismus, die das Böse an ihm nur in Personen erkennen wollte, den Bankstern und Geldschneidern. Gelernt hatten wir in der »Dialektik«: der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund. So wie die »Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung (...) gesellschaftlich notwendiger Schein ist«, besteht der moderne Antisemitismus in der Biologisierung dieser »abstrakten« Seite des Kapitalismus.

Auf der Suche nach meinem Exemplar auch entdeckt: alte Flugblätter von der Uni. Verweise auf Moishe Postones viel diskutierten Aufsatz »Nationalsozialismus und Antisemitismus«. Und immer wieder auf die »Dialektik der Aufklärung«. In der Sprache mühten wir uns redlich, an den hermetischen Sound von Adorno und Horkheimer heranzureichen. Deren gedankliche Höhe blieb bei unseren Tiefflügen meilenweit entfernt. Gut waren wir wiederum in demonstrativer Skepsis, darüber, ob man diese Gesellschaft überhaupt noch ändern könne. Vollgeschriebene Blätter, strenge Traktate. Wen dachten wir, damit zu erreichen?

Man kann das Adorno/Horkheimer nicht vorwerfen. 1969 schrieben sie zur Neuauflage des Buches, sie hätten »den Übergang zur verwalteten Welt schon damals nicht zu harmlos eingeschätzt«. 45 Jahre später: Mein Exemplar bleibt verschwunden. Ich habe es mir neu gekauft, als eBook. Was hätten die beiden Autoren der »Dialektik« nur zum Internet gesagt?

Tom Strohschneider

Der große Hund am Highway

Würde man »›Fun ist ein Stahlbad‹ (Adorno/Horkheimer über Facebook)« twittern, würde sich dieser Tweet vermutlich ziemlich schnell und allen Ernstes rasant weiterverbreiten, denn Insassen von Social Media lieben nichts so sehr wie das Gedisse der jeweiligen Konkurrenzplattformen.

Aber ist »Amusement«, also in dem Fall das pausenlose Selbstdarsteller- und Selbsternstnehmertum bei Facebook, nicht tatsächlich auch vielleicht »die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus«? Zumal selbst harmlose Zeitvertreibspielchen wie »Nimm das dir nächstliegende Buch; schlage Seite 52 auf und teile den 5. Satz mit, nenne aber NICHT den Titel des Buches« unweigerlich immer zum Ichichich-Wettbewerb werden?

Ob es jemals in der Facebook-Geschichte vorgekommen ist, dass sich jemand tatsächlich an diese Anleitung gehalten hat und nicht vom Rechner aufgestanden und zum Buchregal gegangen ist, um etwas halbwegs Präsentables und vor allem das eigene Selbstbild Widerspiegelndes herauszusuchen, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich ist es aber nicht, denn praktisch nie tauchen im Buchaufschlagespiel Sätze wie dieser (zugegeben ausgedachte) auf: »Tief traurig blickte Resi auf die kleine Lichtung am Waldsee, wo ein Paar in offenkundig vertraulicher Unterhaltung auf einer karierten Wolldecke saß - Tatjana, die zwielichtige Millionärin aus der Stadt, hatte es also schon wieder geschafft, den arglosen Oberförster Georg mit gespieltem Interesse an der Natur seiner Bergheimat dazu zu bringen, seine karge Freizeit mit ihr zu verbringen.«

Womit wir bei der Dialektik der Aufklärung wären. Und beim Servicejournalismus. Wer bei Facebook gern als intellektuell gelten möchte, sollte sich für den Fall, dass die Sache mit der 52. Seite und dem 5. Satz in eine neue Runde geht, dieses Zitat aus dem Buch merken: »Die Instrumente der Herrschaft, die alle erfassen sollen, Sprache, Waffen, schließlich Maschinen, müssen sich von allen erfassen lassen.« Und natürlich die entsprechende Ausgabe: Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1989, denn die muss man dann auch triumphierend posten, soll ja schließlich jeder wissen, dass man Horkheimer/Adorno immer gleich in Reichweite liegen hat und nicht etwa »Resi und der Oberförster« oder so.

Alternativ könnte man aber auch behaupten, dass das Lesespiel vollkommen falsch gespielt wird und erklären, dass in Wirklichkeit Seite 243 aufgeschlagen und Satz Nummer 7 geteilt gehöre. Dann kann man mit, genau: Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1989 richtig glänzen, denn dort findet sich dieser wunderschöne Satz: »Ein großer Hund steht am Highway.« Noch schöner: einfach bloß den Highway-Hund zitieren, auf Nachfrage behaupten, der stamme aus »Resi und der Oberförster« und dann gemütlich abwarten, ob der durchschnittliche kritische Theorist sein angebliches Lieblingsbuch wirklich auswendig kann. Fun kann schließlich auch Spaß machen.

Elke Wittich

Wehe, wenn sie losgelassen

Ich bin ja eigentlich ein Freund des Ich-Sagens. »Ich finde ›Dialektik der Aufklärung‹ super«, das klingt einfach besser als: »Der Autor dieser Zeilen …« oder: »Der Mann, den der Autor jeden Morgen beim Rasieren im Spiegel sieht« oder so ein Quatsch. In der deutschsprachigen Publizistik ist die erste Person Singular nur zulässig, wenn es sich um einen als solchen kenntlich gemachten persönlichen Kommentar handelt, weswegen dem Ich dann gerne durch die Nonsens-Formulierung »Ich persönlich« Nachdruck verliehen werden soll. »Ich persönlich« im Gegensatz zu »Ich sachlich«, oder was? Weitere Ausnahmen vom Ich-Tabu gibt es in Fällen persönlicher Betroffenheit. Wenn etwa eine Journalistin über erlittene Fehlgeburten berichtet oder über das Leben mit einem behinderten Kind - Frauen gesteht man eher mal Subjektivität zu, gefühlsbetonte Geschöpfe, die sie sind. Im anglo-amerikanischen Journalismus genießt das Ego ganz andere Freiheiten, die Resultate verhalten sich am Ende wie die Performance einer Helene Fischer zu der von Lady Gaga oder die Kunst von Pur zu jener von Pulp. Oder Harald Martenstein zu John Jeremiah Sullivan. Adorno hat schon Recht: »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.« Weil sie, wenn sie Ich sagen, einem Wir nach dem Munde reden, von dem sie sicher sein können, dass es majoritär ist, dass es auf ihrer Seite steht. Wenn sie gratismutig gegen die Diktatur der politischen Korrektheit anschreiben, gegen die Spaßbremsen, die unseren Jungs den Gaucho-Tanz verbieten wollen. So gehen Deutsche, spontan wie Toni Kroos, der »persönliche Freund« von Hartmut Engler, Sänger der Band Pur aus Bietigheim-Bissingen, altes Deutschland. Sollte man diesen Leuten das Ich verbieten? Wird Subjektivität überbewertet? »Die antisemitische Verhaltensweise wird in den Situationen ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen werden.«

Steht so in der »Dialektik der Aufklärung«.

Klaus Walter

Im Teich der Erkenntnis

Das Buch habe ich nie sauber gelesen, weiß aber - wie die meisten wahrscheinlich - »ziemlich genau« was drin steht. Ich behaupte darüber hinaus entschlossen, dass es ein Update vertragen könnte. Es ist ja im Schatten einer bestimmten Zeit entstanden. Trotzdem sind natürlich auch Linien darin, die weiterhin genau so Bestand haben. Aufklärung ist etwas, worin sich der Mensch in seiner jeweiligen Wahrnehmung vielleicht immer befindet. Der Einzelne hält sich ja selten für dumm, sondern für durchaus bewandert in seiner eigenen Zeit, und misst das jeweils mit seiner Umgebung ab. Großgeister wie Adorno und Horkheimer sind außerdem imstande, die gesamte Geschichte mit der Gegenwart abzugleichen. Und was sie wussten, ist, dass die aufklärerischen Gedanken jeweils in die tiefe Geschichte hineinragen und vielleicht schon irgendwann mal irgendwo sauberer standen, Zeitgemäßes fällt eben gern unpräziser aus. Den Stand der Aufklärung als »mythologisch verklärt« zu beschreiben, ergibt da besonders Sinn.

Was läuft schief? Wir empfinden also aufgeklärt, auch in unserem moralischen Verstehen, und müssten es eigentlich besser wissen, bevor wir die nächste Tölpelhaftigkeit begehen. Wir begreifen nicht, dass wir uns weiterhin zutiefst archaisch benehmen. Zum Beispiel verstehen wir den Kapitalismus ganz gut in seiner Superkomplexität und geraten trotzdem in Eigengeschäftsführung oder in Selbstoptimierungswahn, in die totale Mitmachgestaltung bei aller kritischer Reflexion und dem jeweiligen »Anders-Anderssein« als hilfloses Gegenpaddeln. Da passt dann auch der andere schöne Adorno-Satz so prima weiterhin, der vom Nicht-Richtigen im Falschen. Dieser Gedanke ist weiter modern, wobei es freudlos ist, ihn auf alles Mögliche zu stülpen, über die Kunst usw., wie Adorno selbst das streng unternommen hat. Dieses helle, draufschauende Denken bleibt wunderbar.

Aber ich bleibe trotzdem auch hängen in manchem Großwerk, wenn ich ehrlich bin. Ich bin immer ganz glücklich, wenn ich die kardinale These verstanden habe, und die reicht mir dann in meinem kleinen Universum, als ein Schritt. So kommt es, dass wir in unserem Reifeprozess, wenn es denn einen gibt, jeweils immer nur kurz mal in solche Erkenntnis-Teiche springen und die dann irgendwie nutzen fürs Weiterschwimmen. Mir gefällt die Weitläufigkeit solch toller Gedanken, ich mag aber in der präzisen Auslegung meist nicht folgen, auch weil ich glaube, dass das - in der heutigen Blitzkollagenwelt - teils zu träge greift.

Schorsch Kamerun

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